Die Leiden der nathanischen Seele

Die Leiden der nathanischen Seele

Anthroposophische Christologie am Vorabend des Ersten Weltkriegs

von Peter Selg |

Die Studie von Peter Selg schildert - anlässlich des 100. Jahrestages des Ersten Weltkrieg-Beginns - die Entfaltung zentraler Motive des "Fünften Evangeliums", der nathanischen Seele und der Christus-Opfer in Rudolf Steiners Vortragswerk in der unmittelbaren Vorkriegszeit.


EAN 9783905919585

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Am 1. Juni 1914 sprach Rudolf Steiner in Basel zum letzten Mal vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs – und zum letzten Mal in seinem gesamten Vortrags- und Schriftwerk - über die nathanische Seele und ihre Beziehung zum Mysterium von Golgatha. Der interne Zweigvortrag beendete eine Reihe von tiefgehenden christologischen Betrachtungen, die am 20. September 1913 bei der Grundsteinlegung des Johannesbaus im benachbarten Dornach begonnen worden waren, und mündete – vier Wochen vor dem Attentat in Sarajevo – in das Motiv der «Selbstlosigkeit», dessen Zukunftsbedeutung Rudolf Steiner mit großem, ja unüberhörbarem Nachdruck betonte.

Die Studie von Peter Selg schildert – anlässlich des 100. Jahrestages des Ersten Weltkrieg-Beginns – die Entfaltung zentraler Motive des «Fünften Evangeliums», der nathanischen Seele und der Christus-Opfer in Rudolf Steiners Vortragswerk in der unmittelbaren Vorkriegszeit.


Rezension

Das Vortragswerk Rudolf Steiners ist so umfangreich, dass es schon seit längerer Zeit unternommen wird, verschiedene Vorträge, die nicht zu einem Zyklus gehören, unter einem bestimmten Gesichtspunkt zusammenzustellen, herauszugeben und/oder zu kommentieren. Ein Begriff, der vor allem außerhalb der Anthroposophie mit den denkbar größten Missverständnissen (und infolgedessen auch mit Misstrauen) behaftet ist, ist der des »Fünften Evangeliums«. Diese Missverständnisse treten uns in verschiedenen Spielarten entgegen. Exemplarisch mag eine persönliche Begebenheit hier am Platze sein: Vor Jahren wurde mir anlässlich eines Antrittsbesuches bei einer evangelischen Pfarrerin mit Blick auf meine Tätigkeit als Pfarrer in der Christengemeinschaft, die von jener Kollegin vollkommen mit der Anthroposophie identifiziert wurde, gleich als Gesprächseröffnung vorgehalten: Wir hätten doch das sechste Buch Moses … Und irgendwie kam sie dann auf den eigentlichen Stein des Anstoßes, das Fünfte Evangelium!

»Fünftes Evangelium« – das ist zunächst nur eine Vokabel. Was hat es inhaltlich damit auf sich? Ein weiteres Evangelium von der Art derjenigen, die im ersten Jahrhundert verfasst worden sind und die Taten Jesu Christi, jedes auf seine spezifische Art, bezeugen wollen? Und nun eben lediglich noch ein paar Tatsachen mehr geschildert, z.B. die Jahre zwischen der Geburt und der Jordantaufe, von denen die vier kanonischen Evangelien weitgehend schweigen? Damit wir noch ein wenig mehr erfahren können? Nun, dieser Meinung kann man der Tat auch innerhalb der anthroposophischen Bewegung noch immer begegnen, wovon sich jeder überzeugen kann, der einmal darauf achtet, wie im Umkreis von Zweigabenden häufig etwa in der Weise davon gesprochen wird: »Wir lesen gerade im Fünften Evangelium!«

Was das Fünfte Evangelium seinem Wesen nach ist, nämlich etwas derjenigen Offenbarung, die einst von Osten nach Westen strömte, Entgegengesetztes bzw. diese Ergänzendes, charakterisierte Rudolf Steiner bei der Ansprache zur Grundsteinlegung des Goetheanums am 20. September 1913: »Fühlet … wie in dem unbestimmten Sehnen und Hoffen der Menschheit nach dem Geiste der Schrei hörbar ist nach der Antwort, … die gegeben werden kann da, wo Geisteswissenschaft walten kann mit ihrem Evangelium der Kunde von dem Geiste.« (Hervorhebungen vom Autor) Einem anderen Aspekt der Sache kann sich nähern, wer an das untere Bild in der Mitte des berühmten Genter Flügelaltars von Jan van Eyck aus dem 15. Jahrhundert denkt, »Verehrung des Lammes Gottes«: Auf einer Erhöhung steht das blutende Lamm, welches Christus als das Opfer-Wesen der Welt zeigt; von vier Seiten nähern sich Menschenströme, um diesem mystischen Wesen ihre Verehrung zu erweisen. Die Vierheit der Strömungen kommt zu dem fünften Tier, in dem sie etwas vollkommen Neues erkennt. Darauf deutete Rudolf Steiner in einem Vortrag am 16. September 1907 hin: »Dann aber gibt es und wird es geben, solange die Erde sein wird, eine Gruppenseele für die höhere Offenbarung des Menschen, die durch das Lamm dargestellt wird, durch das mystische Lamm, das Zeichen für den Erlöser. Diese Gruppierung der fünf Gruppenseelen: die vier des Menschen um die große Gruppenseele, die noch allen Menschen gemeinschaftlich gehört …«

So können wir das Bemühen um eine zeitgemäße Christus-Erkenntnis und um eine Haltung des Opfermuts bzw. der Selbstlosigkeit als Substanz des Fünften Evangeliums betrachten. Wie diese beiden zunächst scheinbar ganz unterschiedlichen Menschheitsziele – sozusagen als gelebtes Fünftes Evangelium – zusammenhängen, zeigt Peter Selg in seinem im letzten Jahr erschienenen Buch Die Leiden der nathanischen Seele anhand der christologischen Vorträge Steiners am Vorabend des Ersten Weltkrieges, genauer: zwischen dem oben erwähnten 20. September 1913 und dem 1. Juni 1914. Seinen eigenen Ausführungen vorangestellt ist der Vortrag Steiners von eben jenem 1. Juni 1914, in welchem er drei Opfer des Christus beschrieb, die dieser vor der Opfertat auf Golgatha vollbrachte – und damit die menschliche Konstitution als Sinnes- und als Lebewesen sowie in Bezug auf die Harmonie der Wesensglieder Denken, Fühlen und Wollen vor einem Abfall in den Egoismus bewahrte. – In seiner eigenen ca. 50-seitigen Darstellung erkennt Selg die Selbstlosigkeit als das zentrale Motiv sämtlicher christologisch-menschenkundlicher Vorträge, die Steiner in diesen neun Monaten gehalten hat und die hauptsächlich in den Bänden Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium (GA 148), Christus und die geistige Welt. Von der Suche nach dem heiligen Gral (GA 149) sowie Vorstufen zum Mysterium von Golgatha (GA 152) abgedruckt sind, und mit denen das Verständnis dessen, »was wirklich in den drei Jahren von der Taufe bis Golgatha geschah« (S. 48) mehr und mehr ausgeweitet wurde. Für ein Verständnis des Christusweges nach Jerusalem zum Opfertod ist die Beschreibung zweier Jesus-Knaben eine unschätzbare Hilfe. Steiner hatte diese Anschauung seit 1909 entfaltet. Dem Schicksal der nathanischen Seele, welche in dem Jesus, von dem das Lukasevangelium berichtet, zum ersten Mal überhaupt auf der Erde verkörpert war, ist Selg in seiner Zusammenschau der Steinerschen Vorträge besonders nachgegangen. Seine Forschungen ergeben einen engen Zusammenhang dieser Seele mit dem Wesen – von Steiner 1914 vorsichtig als »erzengelartig« bezeichnet –, das in den drei Opfertaten vor der Inkarnation zur Zeitenwende mit dem Christus verbunden war. Auch mit diesen vorbereitenden Taten wurde leiblich schon das gepflanzt, was sich in der Auseinandersetzung mit den entgegenwirkenden Kräften bilden soll. Ob die so veranlagten Kräfte sich zu einer »Kultur der Selbstlosigkeit« entfalten können, hängt davon ab, ob die Opfertat Christi mehr und mehr in all ihren Ausmaßen vom Denken ergriffen und somit in das bewusste Leben einziehen kann.

Steiner hat nach dem 1. Juni 1914 nicht mehr über die nathanische Seele und ihren Zusammenhang mit den Taten Christi gesprochen. Bald nach diesem Vortrag überschlugen sich die politischen Ereignisse, mündend in die Juli-Krise und schließlich den Kriegsausbruch. Seit Monaten werden die Auswirkungen und Schatten der »Urkatastrophe« beschworen, die damals begonnen hat. Mit dem eindringlichen Hinweis auf die anthroposophische Christologie in den Monaten vor diesem Beginn setzt Selg den Schatten etwas entgegen: Auch das Erkenntnisbemühen, das damals in so großartiger Weise impulsiert wurde, ist bis heute wirksam. Die Darstellung Selgs ist ohne Frage dazu angetan, jedem, der sich auf diese Themen einlassen will, eine große Hilfe zu sein, damit das »Fünfte Evangelium« sich seinem Wesen gemäß entfalten kann.

Quelle: Die Drei, Heft 4, 2015

Erscheinungsdatum: 08.2014
Einbandart: Leinen
Seiten: 120
ISBN 978-3-905919-58-5