Erinnerungen an Rudolf Steiner und Marie Steiner-von Sivers

Erinnerungen an Rudolf Steiner und Marie Steiner-von Sivers

von Anna Samweber |

Durch Anna Samwebers Erinnerungen erhält der Leser einen Blick auf Rudolf Steiner aus ihren ganz persönlichen Erlebnissen. Was sie erfahren hat, verdichtet sich zu einzelnen Begebenheiten, zu szenischen Bildern, die als Fragment betrachtet, einen erstaunlichen Einblick auf Rudolf Steiners Persönlichkeit bieten. Es ist, als ob man kleine, bunte Glassplitter betrachtet, die erst im Licht gewendet sonderbar auf ein Ganzes weisen.


EAN 9783723514955

Hersteller: Verlag am Goetheanum

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Dieses ist nicht nur Teil der Historie, sondern, nach Vermögen, auch Teil des eigenen Erlebens. «Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern, man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters tritt uns entgegen« (J. W. Goethe)


Rezension

Nicht nur die Verschriftlichung und Herausgabe der Vorträge Rudolf Steiners in Buchform war – worauf aufmerksam gemacht zu haben sicher nicht erst das Verdienst von Irene Diets jüngst erschienenem Buch ist – problematisch. Jetzt legt der Verlag am Goetheanum die Erinnerungen von Anna Samweber an Rudolf Steiner und Marie Steiner-von Sievers neu auf. Jakob Streit verfasste Ende der 60er Jahre aus dem, was Anna Samweber, Mitarbeiterin von Rudolf und Marie Steiner von der Zeit des ersten Goetheanums an, ihm erzählt hatte, kurze Erinnerungsskizzen. In der Einleitung schreibt er: »Sie (Anna Samweber) hatte ja in ihrem Leben immer wieder vielen Menschen davon erzählt, um einen Betrag zum menschlichen Wahrbilde Rudolf Steiners zu geben.« Es folgen kurze Schilderungen von Einzelbegebenheiten aus Anna Samwebers Jugendbiografie, ihrer Begegnung und Zusammenarbeit mit Rudolf Steiner und Einzelnes aus der Zeit nach Rudolf Steiners Tod.

Nun kann und will ich es Frau Samweber nicht verübeln, dass für sie die mit Rudolf Steiner geteilten Erlebnisse eine einzigartige Bedeutung hatten. Auch Ende der 60er Jahre, als Jakob Streit Samwebers Erinnerungen aufschrieb, herrschte vielleicht gegenüber der Gültigkeit anthroposophischer Erinnerungsliteratur noch nicht so eine ausgeprägte Sensibilität wie heute. Daher richten sich meine Anmerkungen vielleicht am ehesten an die Verlagsleitung, auch, um nicht Texte schutzlos preiszugeben, die, wie ich meine, ihre Pflicht und Schuldigkeit getan haben und die, heute veröffentlicht, in ihrer Unzulänglichkeit einem Urteil ausgesetzt sind, welches sie eigentlich nicht verdienen. Die weltumspannende Bedeutung, welche Anthroposophie sich selbst zuspricht, ihre Ubiquität, ihr Überall-möglich-Sein, findet schon in dem, was Rudolf Steiner als schwer lesbare Spur einer persönlichen Biografie hinterließ, kaum noch eine angemessene Repräsentanz. Die Herleitung dessen, was heute als Anthroposophie in Menschen zu Leben und Bewusstsein kommen kann aus den privaten Lebensumständen ihres historischen Gründers ist, so denke ich, nicht mehr zeitgemäß – war es eigentlich auch nie. Freilich ist es nicht die Absicht von Erinnerungen, derartige Überzeugungsarbeit  zu leisten. Es soll nichts bewiesen werden. Dennoch: Erinnern bedeutet auch, Zeugnis abzulegen. Wer eines Menschen gedenkt, bezeugt: dessen Wahrhaftigkeit, seine Taten, seine Glaubwürdigkeit.

Dies stellt einen bestimmten Gestus in den Vordergrund, den Steiner ebenso ablehnte wie er ihn tagtäglich praktizierte: den der Autorität. Bei Hegel ist zu lesen: Das »Unterschieben eines anderen Grundes als den der Autorität hat man philosophieren genannt.« Hegel weist damit auf den Konflikt hin, dem sich jedwede Erkenntnis gegenüber sieht: ihr Geschiedensein von der Praxis durch Freiheit. Nur Autorität kann auch jene zum Handeln bewegen, die (noch) nicht über Erkenntnis verfügen. Der gleichsam gerechtfertigte Zugang zu solcher Praxis und damit auch zur Autorität trägt den Namen Anerkennung.

In der Anerkennung findet Autorität jenes Maß, welches die noch ausstehende eigene Einsicht nicht endgültig an jene delegiert, die es sowieso und immer schon besser wissen. In ihr ist die Zeit nicht gänzlich zugunsten einer absoluten Autorität aufgehoben. Das fatale Zusammenspiel zwischen ausstehender Erkenntnis und einer wagemutigen Praxis, welche der Einsicht immer schon voraus ist, prägt die Zusammenarbeit Rudolf Steiners mit den Menschen an seiner Seite vehement. Das belegen auch die von Streit niedergeschriebenen Erinnerungen Samwebers. Damit meine ich nicht die Darstellung bekannter Konflikte, Auseinandersetzungen und Streitigkeiten – also nichts Inhaltliches.

Die erste Begegnung Samwebers mit Rudolf Steiner findet in München statt. Der kurze Text schildert, wie sie für einen Vortrag den Raum mit »roten Rosen« schmücken hilft und »die Obolusbüchse« am Eingang hinhält. »Herr Arenson spielte feierlich zu Beginn am Harmonium«. Dann wird mit verteilten Rollen aus den Mysteriendramen gelesen. Steiner übernimmt den Part des Benedictus. Es folgt eine Gedenkrede (für Sophie Stinde), welche die Zuhörerin »tief ergriff … Nochmals spielte das Harmonium.« Dann die bange Frage: »Was müsste in mein Leben kommen, dass ich diesem Menschen die Hand geben dürfte?« Dies geschieht wenige Augenblicke darauf. »… er sagte zu mir: … auf Wiedersehen in Berlin!«

Ohne Zweifel, diese Szene ist für Anna Samweber eine biografische Keimzelle. Aber welchem Verständnis welcher Sache sollte eine Schilderung dienen, die das möglicherweise Gemeinte mit der Darstellung eines historischen und milieubedingten Dekors derart verstellt, dass vielmehr der Eindruck einer mystisch privaten Hinterzimmerzusammenkunft vermittelt wird! Welche Wahrheit bekommt hier ihr Bild?

An anderer Stelle heißt es: »Da Rudolf Steiner aus inneren Gründen Menschen seines Umkreises, wenn sie Fehler begingen, nicht schelten konnte, um das Verhältnis von Lehrer und Schüler nicht zu stören, übertrug er öfters solch unbequeme Pflichten Marie Steiner, die er scherzhaft dann auch seine ›Reinemachefrau‹ nannte oder sogar einmal den Ausspruch gebrauchte: ›Sie muss mein eiserner Besen sein.‹« Wenn Steiner selbst keine direkte Kritik üben wollte, so wird er in dieser Äußerung doch als die nicht zu hinterfragende Autorität für die Feststellung von Kritikwürdigem betrachtet. Dass er Fehlerhaftes als solches beurteilte, dessen Formulierung dann aber an seine Lebensgefährtin delegierte, die er, dazu noch »scherzhaft«, als »seine Reinemachefrau« bezeichnete, erweckt in mir nicht den Eindruck, hier werde auf Kritik verzichtet. Nun will ich nicht ausschließen, irgendwie sei an dieser Sache etwas Berechtigtes. Doch auch in diesem Fall bietet der Text mir keinerlei Anhaltspunkte für ein Verständnis, das über mileuinterne Topoi und selbstgenügsame Redeweisen hinausginge.

Dies sind nur zwei von mehreren möglichen Beispielen, die meinen Eindruck erläutern sollen, dass der veröffentlichte Text sich in der begrifflichen Unbeholfenheit und Unzulänglichkeit selbst isoliert. Ausdrucksweisen wie Rudolf Steiner tat etwas »mit großer Liebe«, oder sprach, was er zu sagen hatte, »für den modernen Menschen« aus, oder gar Verniedlichungen wie »Doktors Buch Die Philosophie der Freiheit« verfügen kaum über die Kraft, jenseits ihrer Betulichkeit eine Offenheit für die Sache zu erzeugen. Die von Streit in der Einleitung formulierte Überzeugung: »Die zeitliche Distanz zu den Geschehnissen gibt diesen heute bereits historischen Charakter, die auch Persönliches sachlich nehmen lässt « hat sich für mich aus diesen Gründen nicht eingelöst.

Gerade in anthroposophischer Erinnerungsliteratur wird übersehen, dass die Transformation des Persönlichen in eine ästhetische Gestalt von umgreifender Relevanz eine künstlerische Aufgabe erheblichen Anspruchs ist. Die sprachliche Verarbeitung von Erinnerungen erschöpft sich nicht in dem möglichst einfachen und ungeschminkten Aufschreiben von dem, was gewesen ist. Dabei wird man weder der Perspektive des sich Erinnernden noch dem erinnerten Inhalt gerecht. Zudem ist der problematische Zusammenhang zwischen der Aktualität des Geistigen und dem, was Gedächtnis zu leisten imstande ist, von Rudolf Steiner selbst wiederholt dargestellt worden. Insofern Erinnerung dem lebendigen Geist von Begegnung und Schicksal Ausdruck verleihen will, wird sie sich anderer als der bisher bekannt gewordenen Mittel bedienen müssen.

Insofern ließe sich der vorliegende Text von Samweber/Streit allenfalls als ein Aspekt in einer Rezeptionsgeschichte der Anthroposophie durch die Zeitgenossen und Mitarbeiter Rudolf Steiners lesen. Das Geschriebene einfach in eine Gegenwart durchzureichen, die anders geworden ist, greift meiner Meinung nach zu kurz. 

Quelle: Die Drei, Heft 9, 2014

  • Broschiert: 112 Seiten
  • Verlag: Futurum (24. November 2008)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3723513441
  • ISBN-13: 978-3723513446
  • Größe und/oder Gewicht: 18,4 x 12,6 x 0,8 cm