Über die Art hinaus

Über die Art hinaus

Die Bedeutung intelligenter Individuen für die Evolution der Tiere

von Walther Streffer |

Walther Streffer zeigt an vielen Beispielen die Bedeutung von Intelligenz und Individualismus bei Säugetieren und Vögeln. Bei einzelnen Tieren einer Art gibt es eine beobachtbare Entwicklung zu einer Individualisierung. Das führt zu prinzipiellen Fragen der Unterschiede und der Übergänge zwischen Mensch und Tier. Und es führt auch dazu, sich deutlich der Würde der Tiere bewusst zu werden.


EAN 9783772526947

Hersteller: Freies Geistesleben

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Höhere Wirbeltiere verfügen über einsichtiges Verhalten und Gedächtnis wie auch ein großes Maß an sozialer und motorischer Intelligenz. Die fortschrittlichen und flexibleren Individuen entdecken etwa im Umgang mit Werkzeugen bessere Techniken, die von den Artgenossen rasch nachgeahmt und als neue Fähigkeiten tradiert werden. 

Diese extragenetische Vererbung umfasst auch die Weitergabe des Sozialverhaltens, zum Beispiel Lernprozesse, Kommunikation, Fürsorge und Empathie.Die Neubewertung des Evolutionsgeschehens führt zu der Erkenntnis, dass die Organismen ihre eigene Evolution mitgestalten.

Walther Streffer zeigt an vielen Beispielen die Bedeutung von Intelligenz und Individualismus bei Säugetieren und Vögeln. Bei einzelnen Tieren einer Art gibt es eine beobachtbare Entwicklung zu einer Individualisierung. Das führt zu prinzipiellen Fragen der Unterschiede und der Übergänge zwischen Mensch und Tier. Und es führt auch dazu, sich deutlich der Würde der Tiere bewusst zu werden.

 

Inhaltsverzeichnis

Ein Jahrhundert Tierforschung | Veränderung des naturwissenschaftlichen Weltbildes | Angeborenes Verhalten und Lernprozesse | Lernen durch Zuhören | Von einem Lebensbereich zum anderen: Die Tendenz zu Höherem, Komplexerem | Beispiele zu Gedächtnis und Kommunikationsvermögen der Tiere | Weitere Beispiele zum Individualismus im Tierreich | Das Tier zwischen Vergangenheit und Zukunft | Vogelzug und die Orientierungsfähigkeiten der Vögel | Zur wissenschaftlichen und zur anthroposophischen Deutung der Orientierungsmechanismen | Der Organismus im Mittelpunkt des neuen naturwissenschaftlichen Bewusstseins | Emanzipation der Singvögel vom angeborenen Stimminventar | Der Gesang als Schrittmacher für die Bildung neuer Singvogelarten.


Rezension

Dieses Buch vereint Berichte der umwälzenden Veränderungen in der Biologie der letzten Jahrzehnte mit ausführlichen und sorgfältigen Schilderungen intelligenter Tiere wie Raben, Papageien, Menschenaffen oder Hunde und umfasst diese mit einer weit ausgreifenden Hypothese, die sich im Untertitel zeigt: ›Die Bedeutung intelligenter Individuen für die Evolution der Tiere‹. Es wird damit behauptet, dass Evolution nicht nur – gemäß der Darwinschen Theorie –von den bekannten Triebkräften Mutation und Selektion erzeugt wird, sondern auch von den herausragenden Fähigkeiten einzelner Individuen. In einem wissenschaftshistorischen Teil arbeitet Walther Streffer heraus, dass ein Organismus nicht ein vollständiges Ergebnis seiner vererbten Anlagen und seiner ihn beherrschenden Umwelt ist, sondern ein handlungsfähiges und seine Umwelt seinerseits veränderndes Wesen. (Das ist nur für Nicht-Wissenschaftler selbstverständlich!) Dieser Teil erfreut durch die saubere Zusammenstellung auch aktueller Forschungsergebnisse und durch eine klare Gedankenführung, die sich immer wieder entlang dem zentralen Motiv der zunehmenden Autonomie in der Evolution bewegt, wie es von den Goetheanisten Wolfgang Schad und – sehr detailliert – von Bernd Rosslenbroich entwickelt worden ist. Dabei gelingt es Streffer, die komplizierten, für Wissenschaftler formulierten Gedanken gut allgemein verständlich darzustellen.

Im zweiten Teil schildert Streffer ausführlich und anschaulich Beispiele zum intelligenten Verhalten von Tieren, zur Werkzeugherstellung von Krähen, zum Gedächtnis von Raben, zu Vorstufen von Sprache bei Schimpansen, von Zusammenarbeit und Empathie von Bonobos zum Selbsterkennen im Spiegel und individuellem Erkennen von Menschenaffen, Delphinen, Raben und Elstern.

Dabei geht es ihm weder darum, die Unterschiede zwischen Mensch und Tier zu verwischen, noch diese als absolut darzustellen. Vielmehr schildert er Stufen von z.B. Werkzeugherstellung, Erinnerung und Zukunftsplanung, die sich zwar stark von denen des Menschen unterscheiden, aber nur graduell. Und besonders, wenn Tiere schon als Jungtiere aus ihren alltäglichen Notwendigkeiten herausgeholt werden und mit ihren vertrauten Pflegern intensiv lernen, entwickeln diese überraschende Fähigkeiten, die in Einzelfällen weit über das Artübliche hinausgehen. (Daher auch der zunächst irritierende Titel des Buches.)

Ausführlich werden auch die Gesangs- und Lernleistungen von Singvögeln geschildert – ein Spezialgebiet Streffers. Dabei kommt es ebenfalls zu herausragenden Leistungen, Dialekten und Erfindungen einzelner Individuen, die über die Gesänge »normaler« Nachtigallen oder Schamadrosseln hinausgehen. Es ist bekannt, dass solche Dialekte zur Entstehung neuer Vogelarten führen können und damit die Evolution vorantreiben, aber eben aus den Leistungen des Organismus heraus, nicht als äußerer Zwang zur Anpassung. Streffers Hypothese ergänzt also das Wirken der Evolution um die besten Kräfte einzelner Individuen.

Bei Schimpansen werden solche individuellen Neuerfindungen, etwa neue Methoden beim Knacken von Nüssen oft von Zuschauenden übernommen und manchmal sogar den Kindern dezidiert vorgeführt, so dass diese Fähigkeiten Einzelner nicht verloren gehen, sondern von der nächsten Generation weitergeführt werden. Beim Menschen nennt man das Kultur. Kultur ist zum eigentlichen Träger der Evolution des Menschen geworden. Bei Menschenaffen sehen wir erste Anfänge davon.

Im Schwunge der Begeisterung fallen in diesem Teil Formulierungen manchmal etwas überzogen aus, sodass ein blanker Lamarckismus erscheint, der an manchen Stellen nur notdürftig mit dem Hinweis auf die Epigenetik bemäntelt wird. Epigenetik, also die Vererbung auch von erworbenen Fähigkeiten außerhalb der DNA, ist zwar ein großer Hoffnungsträger, ist aber in ihren Ergebnissen noch lange nicht so tragfähig, wie es hier manchmal erscheint.

An anderen Stellen, etwa beim Storchenzug, fehlen Versuchsergebnisse, die der dargestellten Hypothese widersprechen. Das schmälert aber nicht die Leistung dieses Buches. Denn zum Einen ist es dieser große Wurf einer Hypothese, die – wie alle wissenschaftlichen Hypothesen – anhand der nächsten Forschungen geprüft und geläutert werden wird. Zum Zweiten sind es die ausführlich, mit viel Wärme geschilderten, immer wieder erstaunlichen Leistungen der Tiere, die dieses Buch wertvoll machen.

Man kann es nicht in einem Zug durchlesen, es ist mehr ein Arbeitsbuch, in dem man immer wieder einmal zurück schlägt und mit dem man sich lange damit beschäftigen wird.

Auf dem Buchumschlag sehen wir das Foto eines Orang-Utans, der an einer Liane über einem Fluss hängend mit einem langen Stock ins Wasser schlägt. An der Handhaltung und dem ungeschickt eingesetzten Hebel erkennt der menschliche Beobachter, dass ein Fisch, selbst wenn er getroffen würde, wohl unverletzt bliebe und nicht im Magen des Orang-Utans landen würde. Der Artgenosse, der ein Stück entfernt an einen anderen Liane schaukelt und diesen Versuch beobachtet, sieht das allerdings noch nicht. Ein großartiges Foto, das genau der Hypothese des Buches entspricht! Dass dieser zweite, beobachtende Orang-Utan aber zerschnitten wird und seine verbliebene, Hälfte über den Buchrücken hinweg auf die Rückseite verbannt wurde, gemahnt uns daran, dass auch die Entwicklung der Buchmacherkunst im Verlag Freies Geistesleben noch nicht an ihrem Ende angekommen ist.

Quelle: Die Drei, Heft 3, 2017

Erscheinungsdatum: 12.10.2016
Auflage: 1.
Seiten: 300, mit Schwarzweißfotos
Einbandart: gebunden
ISBN: 978-3-7725-2694-7