Manche Angst in Zuversicht verwandelt: Eltern von Kindern mit Behinderung erzählen

Manche Angst in Zuversicht verwandelt: Eltern von Kindern mit Behinderung erzählen

von Barbara Oehl-Jaschkowitz, Foto(s) von Charlotte Fischer |

"Unser Buch soll durch die eindrücklichen Berichte und die bewegenden Fotografien Eltern, die in einer ähnlichen krisenhaften Situation stehen, Mut machen, offen und möglichst positiv mit dem eigenen Schicksal umzugehen." (Barbara Oehl-Jaschkowitz)


EAN 9783957790286

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Eltern, die heute trotz entsprechender Diagnose ein Kind mit Behinderung zur Welt bringen, bilden eine Ausnahme. In diesem Buch erzählen Mütter und Väter, die sich bewusst für die Geburt eines behinderten Kindes entschieden haben oder die in den ersten Lebensjahren mit einer bleibenden Entwicklungsstörung ihres Kindes konfrontiert wurden. Offen und ungeschönt dokumentieren diese Gespräche Sorgen und Ängste, aber auch Kraftquellen der Betroffenen. Sie vermitteln Erfahrungen und Haltungen, die Eltern in ähnlichen Situationen hilfreiche Unterstützung sein können, sei es bei einem erwarteten oder bereits geborenen Kind. Gerade auch die Lebensbeispiele schon erwachsener Menschen mit syndromalen Erkrankungen, die zum Teil mit einer deutlichen geistigen Beeinträchtigung einhergehen, können den Befürchtungen junger Eltern bezüglich des weiteren Lebensweges ihres erkrankten Kindes ermutigende Bilder entgegensetzen.

Die im Interviewstil geführten Gespräche werden begleitet von Bildern aus dem Leben der betroffenen Menschen, aufgenommen von der Fotografin Frau Charlotte Fischer.


Rezension

»Ich bin jeden Morgen froh, wenn sie aufsteht und mich anlacht«, bekennt die Mutter der kleinen Amelie, die in der 17. Schwangerschaftswoche die Diagnose Down-Syndrom erhielt. »Sie ist so aufmerksam, wissbegierig, neugierig.« Die ersten Monate der Tochter sind von Intensivstation und riskanter Herz-OP geprägt. Ob sie überleben kann, ist ungewiss.

Wir begegnen Amelie und ihren Eltern im zweiten von acht Porträts eines Buchs, das der Verlag mit der Aussage bewirbt: »Unser wohl schönstes Buch des Jahres«. Doch dieses Buch ist mehr als schön – es ist ergreifend, man kann es kaum aus der Hand legen. Es liest sich wie diese raren Lieblingsbücher, für die man sich besonders viel Zeit nimmt, um die Kapitel ganz auszukosten und nicht so schnell ans Ende zu kommen. Von Anfang an, schon beim Porträt von Henri, einen Down-Syndrom-Jungen, der bei den Eltern die titelgebende Angst in Zuversicht wandelt, fließen Tränen – Tränen des Glücks. Darüber, zu erkennen, was Leben ist.

Und dies alles bei einem Buch über Behinderte, über Elternschicksale mit ihren oftmals schwer kranken Kindern? Die traurigen, bangen, manchmal hoffnungslosen Zustände werden nicht übertüncht, sondern ebenso nüchtern aufgezählt wie Siege und Beglückungen. Wir erkennen etwas, das wir vielleicht schon immer empfunden haben, aber nicht klar in Gedanken fassen konnten: Dass Menschen mit »Handicap«, wie es so eigenartig parfümiert heißt, uns neue Wege weisen können, raus aus der Leistungs- und Lärmgesellschaft, rein ins »Slow Living« als Lebensmotiv – aber gänzlich ohne diese Schlagworte. Auch wenn es manchmal ganz schön heftig kommt, kein »All-inclusive«- Hotelbuffet ungepflügt bleibt oder beim Schuhkauf die Schuhe durch den Laden fliegen. »Dann gehen wir eben beim nächsten Mal in ein anderes Geschäft«, erklärt der Vater von Dominik, bei dem eine kognitive Behinderung durch das Fragile-X-Syndrom festgestellt wurde.

Als persönliche Bereicherung, als wunderbare Wende im eigenen Leben haben alle Interviewten das Schicksal eines behinderten Kindes erfahren. Die Betreuerin von Jörg, einem jungen Mann mit Williams-Beuren-Syndrom – das sich durch Intelligenzminderung bei gleichzeitiger Fähigkeit des Auswendiglernens von Texten, Musikalität und großer Freundlichkeit auszeichnet – bringt es mit Rudolf Steiner auf den erhebenden Punkt: »Sie sagte immer zu uns Müttern«, wird sie von Jörgs Mutter zitiert, »dass unsere Kinder schon einmal als hoch intelligente Menschen auf der Erde gewesen seien und sie nun zurückgekommen seien um sich zu erholen, und dass sie sich ihre Eltern ganz genau ausgesucht hätten.«

Natürlich kennen wir ›Willis Welt‹ von Birte Müller aus ›a tempo‹ über deren »Spezialkind« mit Trisomie 21. Sie hat es geschafft, ungeheuer humorvoll am Rande des Nervenzusammenbruchs über das Einzigartige im Leben mit dem Unvollkommenen zu berichten.*

Das Buch, um das es hier geht, besteht jedoch nicht aus zugespitzten Alltagsepisoden, die unterhalten wollen, sondern es wartet mit Fakten direkt aus dem Leben auf: Interviews und biografische Skizzen über die teils traumatischen Erfahrungen der Betroffenen. Und nicht zuletzt blättern wir durch großformatige, farbige Momentaufnahmen, die den »Behinderten« auf die Pelle rücken, in Beziehung treten, die darauf aus sind, die überwältigende Liebe und zu Herzen gehende Schönheit zu zeigen, die diese Menschen ausstrahlen. Sie beflügeln die niedergeschriebenen Fragen und Antworten, beleuchten ihr unfassbares Wesen dahinter.

»Auch wenn jemand durch seine Behinderung nur kurze Zeit zu leben hat, vielleicht nur wenige Jahre oder noch kürzer«, sagt die Betreuerin von Marius, einem 31-jährigen Mann mit Down-Syndrom, »so hat derjenige meiner Meinung nach trotzdem eine Aufgabe und es gibt irgendeinen Grund, dass es so kommt, wie es eben kommt. Wer weiß, was er in der kurzen Zeit, in der er da ist, in seiner Familie bewirkt.« Doch werden in der Pränataldiagnostik mögliche Behinderungen festgestellt, müssen die Eltern, entscheiden sie sich für ihr Kind, zum Schock das Unverständnis der Mediziner und der Umwelt ertragen. Nach den belastenden Befunden werden die Fristen durch die behandelnden Ärzte äußerst kurz gehalten. Es bleibt kaum Zeit zum Nachdenken. Für die in diesem Buch befragten Mütter und Väter sprachen Liebe und Gerechtigkeitsempfinden gegen eine Abtreibung. Jörgs Mutter berichtet zudem von einer Fehldiagnose: »So wurde einer Bekannten gesagt, dass ihr Kind behindert sei. Die Mutter hat sich aber für das Kind und gegen einen Schwangerschaftsabbruch entschieden. Und das Kind war gesund.«

Mehrmals streifen die Interviewten die Inklusion, die nicht so gut wegkommt wie angenommen. Oft fühlen sich Behinderte unter anderen stärker, da sie die Chance haben, sich zu vergleichen und eigene, sie auszeichnende Fähigkeiten bei sich festzustellen. Jörg jedoch besuchte einen ganz normalen Kindergarten und war dort schnell für alle der gern zu Geburtstagen eingeladene »Sonnenschein«.

Die Autorin schreibt im Klappentext: »Unser Buch soll durch die eindrücklichen Berichte und die bewegenden Fotografien Eltern, die in einer ähnlichen krisenhaften Situation stehen, Mut machen, offen und möglichst positiv mit dem eigenen Schicksal umzugehen.«

Doch, meinen wir, geht es nicht nur Menschen an, die direkt davon betroffen sind. Es sollte in die Welt kommen, durch Exemplare an Politiker und Mediziner zum Beispiel, um zur Neu-Besinnung anzustiften! Dazu wäre es imstande. Es muss nur zur Kenntnis genommen werden!

*Birte Müller: ›Willis Welt: Der nicht mehr ganz normale Wahnsinn‹, Stuttgart 2015.

Quelle: Die Drei, Heft 1, 2016

Erscheinungsdatum: 02.07.2015
Auflage: 1.
Seiten: 136
Einbandart: Paperback
ISBN: 9783957790286