Rudolf Steiner: Kindheit und Jugend (1861-1884)

Rudolf Steiner: Kindheit und Jugend (1861-1884)

von Martina Maria Sam |

In vielen Vorträgen - manchmal etwas versteckt - erzählt Rudolf Steiner Erlebnisse und Eindrücke aus seiner Kindheit und Jugend, die für seinen Werdegang prägend waren, weil, wie er einmal erwähnt, alle Verhältnisse dieser frühen Zeit "tatsächlich bildend und herausfordernd auf die Kräfte der Seele des Knaben einwirkten".


EAN 9783723515914

Hersteller: Verlag am Goetheanum

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Zusammen mit bekannten und unbekannten Archivalien und durch die gründliche Sichtung von Dokumenten zu seiner Schul- und Studienzeit können diese oft anekdotischen Erzählungen symptomatisch das Bild seiner frühen Lebenszeit wesentlich erweitern und vertiefen. Jeder kleine Umstand aus diesen frühen Jahren, jeder Mensch im Lebensumkreis bildet gewissermaßen eine schicksalhafte Rune, die wir im Hinblick auf seine weitere Entwicklung zum Geistesforscher lesen können. Eine derartige lebensnahe Begegnung mit Rudolf Steiner und Teilnahme an seinem in mancher Hinsicht urbildlichen Lebenslauf kann uns auch zu unserem eigenen Werdegang neu erwachen lassen.


Buchbesprechung

Quelle: „Anthroposophie weltweit“ Nr. 11/2017

Schweiz: Buch über Kindheit und Jugend Rudolf Steiners von Martina Maria Sam

«Verstärkung der Kräfte des geistigen Erfassens»

Seit seinem 150. Geburtstag sind vermehrt Biografien von Rudolf Steiner erschienen. Martina Maria Sams neue biografische Untersuchung konzentriert sich auf Kindheit und Jugend Rudolf Steiners, die bisher relativ wenig erschlossen sind und vielfältige Aufschlüsse über die Entwicklung des Geistesforschers geben.

Was kann es zu Rudolf Steiner noch Neues zu entdecken geben, mag man sich fragen. Martina Maria Sam hat bei ihren Studien zu den Kindheits- und Jugendjahren Rudolf Steiners 1861 bis 1884 manches finden, aufklären und Zusammenhänge aufzeigen können. Doch dies sind Nebenerträge ihrer Forschungsarbeit. Wichtiger für sie ist die innere Entwicklungslinie im Leben eines Menschheits-lehrers wie Rudolf Steiner, die Frage nach der Bedeutung einzelner Erlebnisse für das spätere Wirken. Die Schicksalsführung «wird insbesondere in der Kindheit und Jugendzeit deutlich, wo der Mensch sein Schicksal ja noch nicht selbst bewusst gestalten kann», schreibt die Autorin in der Einleitung ihres neuen Buches und zitiert in diesem Zusammenhang Rudolf Steiner selbst: «Alles das ist von symptomatischer Bedeutung.» (GA 185, Vortrag vom 1. November 1918)

Sachkenntnisse und kombinatorisches Geschick

Ein Beispiel: Rudolf Steiner sprach um die Jahrhundertwende 1911/12 wiederholt von einem Schülerselbstmord, um geistige Sachverhalte zu verdeutlichen. Martina Maria Sams Eindruck: «Diesen erlebte Rudolf Steiner in seinem unmittelbaren Lebensumkreis.» Um dieser Hypothese nachzugehen, verband Martina Maria Sam Sachkenntnisse mit kombinatorischem Geschick. Dabei kam ihr zugute, dass sie aus ihrer Zeit beim Rudolf-Steiner-Archiv mit den Archivalien – vor allem Rudolf Steiners Bibliothek – vertraut ist und als Autorin von Monografien zu anthropo-sophischen Themen viele Sachverhalte und Zusammenhänge gut kennt.

Die Wiener Neustädter Realschule, die Rudolf Steiner besuchte, gab jährlich Berichte mit dem Aufsatz eines Lehrers und Schulnachrichten heraus. Im Jahresbericht 1879 ist vermerkt, dass im letzten Jahr drei Schülerverluste durch Tod zu beklagen seien. Zwei waren durch Krankheiten gestorben; beim dritten stand nur, dass «der Schüler […] knapp am Ziele seines Strebens» verschied. «Könnte es sich hierbei um diesen Schülerselbstmord handeln?», fragte sich Martina Maria Sam. Tatsächlich be-stätigte sich dies: So äußerte sich Rudolf Steiner in der Schulkonferenz vom 23. Juni 1920 (GA 300a), dass sich an seiner Schule der «Sohn des Schuldieners», nachdem er von einem jähzornigen Lehrer geschlagen worden war, mit Zyankali vergiftete. Durch Online-Recherche fand sich dann eine Meldung in einer österreichischen Zeitung, in der dieser Fall detailliert beschrieben wurde. Dadurch klärte sich auch ein Fehler in der Ausschrift des Stenogramms dieser Konferenz: Aus «der nahm den Laffen und haute ihm eine herunter» wird in der Neuausgabe der Konferenzen «der nahm den Lappen und haute ihm eine herunter».

«Durch den umfassenden Überblick über die vorhandenen Dokumente und Studien, der uns heute möglich ist, sowie durch die Möglichkeiten der Online-Recherche lassen sich neue Zusammenhänge erschließen», fasst Martina Maria Sam zusammen. Dafür brauche es eine innere Fragehaltung. «Ich erlebe», erzählt sie, «dass die Sachverhalte sich dann in der Regel zeigen wollen.»

Erleichterter Zugriff auf Quellen

Martina Maria Sam hat für ihr Buch möglichst umfassend Details aus Rudolf Steiners Kindheit und Jugend ermittelt und dokumentiert. Beispielsweise stellt sie seine wichtigsten Lehrer und alle von ihm erwähnten Studienfreunde mit einem eigenen Kapitel vor. Dabei fiel ihr auf, dass Rudolf Steiner in einem Artikel über den Jugendfreund Rudolf Ronsperger (‹Ein Denkmal›, GA 31) erwähnt, dass er dessen Nachlass von der Schwester erhielt, die die «Frau eines angesehenen in Berlin lebenden Schriftstellers» sei. Martina Maria Sam versuchte, herauszufinden, wer dieser «angesehene Schriftsteller» sei – und stieß auf den Philosophen und Politiker Karl Kautsky. Sollte sich nicht im Nachlass von Luise und Karl Kautsky etwas über den Bruder finden? Tatsächlich war dort nicht nur ein Foto von Rudolf Ronsperger vorhanden, sondern auch ein Brief an seine Tante, den er unmittelbar vor seinem Selbstmord 1890 geschrieben hatte.

Beim Zusammenstellen aller verfüg-baren Unterlagen aus der Schul- und Stu-dienzeit – Martina Maria Sam rekonstruierte sogar die Semester-Stundenpläne aus der Studienzeit – fiel ihr auf, dass Rudolf Steiner in der fünften Realschulklasse über den griechischen Spruch «Kühnheit, wenn sie sich eint mit der Weisheit» einen Aufsatz schreiben musste. Diesen Spruch gab er später – durch Elise Wolfram rhythmisch umgedichtet – den ersten Euryth-mistinnen: «Erst wenn Weisheit mit Kühnheit sich paart …»

An noch anderen Beispielen zeigt sich, wie das Zusammenstellen von scheinbar unwichtigen Details zu neuen Einsichten führen kann. Man würde den Ansatz der Autorin aber missverstehen, wenn man meinte, sie wolle alle Motive auf äußere Ereignisse zurückführen und damit das Werk und die Forschung Rudolf Steiners naturalistisch-materialistisch deuten.

Die Rolle der Erinnerung

Ihr Ansatz ist vielmehr, biografische Erlebnisse aus Kindheit und Jugend mit Blick auf die Entwicklung der Anthroposophie anzusehen. «Die eigene Biografie, die eigenen Erlebnisse», so Martina Maria Sam, «bilden das wichtigste Material der Geis-tesforschung.» Jede Begegnung, jedes Erlebnis kann – wenn auch oft erst im Rückblick – Ausgangspunkt für eine geistige Erkenntnis werden.

Rudolf Steiner erzählt beispielsweise am 25. November 1923, wie es für ihn «von einer ungeheuren Bedeutung» gewesen sei, «mich in eine solche Situation der Jugend hineinzuversetzen, als ich eine Verstärkung der Kräfte des geistigen Erfassens brauchte» (GA 232, Vortrag vom 25. November 1923). Diese Situation war die «tiefe Scham», die er erlebte, nachdem er als Schüler versehentlich ein neues, von den Eltern teuer gekauftes Schulbuch durch ein umgekipptes Tintenfass verdorben hatte.

Damit wird die Bedeutung der Erinnerung deutlich. Diese liegt ja als unbewusst abgelegter Ertrag des vorangegangenen Lebens im gegenwärtigen Willen; sie hat zudem große Bedeutung für die Gemeinschaftsbildung (‹Anthroposophie weltweit› Nr. 10/2017, Seite 1) und eben für die eigenen «Kräfte des geistigen Erfassens». Schließlich können sie, in rechter Weise aufgefasst, zu einem «Lebensquell» werden, wie Mar-tina Maria Sam die Worte Rudolf Steiners versteht: «Wir nähern uns immer mehr der Zeit, in der die Menschen während ihres ganzen Lebens immer mehr und mehr Er-innerungen an ihre Jugendzeit brauchen werden, Erinnerungen, die sie gerne haben, Erinnerungen, die sie glücklich machen.» (GA 177, Vortrag vom 20. Oktober 1917)

Pilotprojekt Tageschronik für 1916

1992 hatte Hella Wiesberger, eine Herausgeberin der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe, zu Martina Maria Sam gesagt: Um sich dem Wesen und der Bedeutung Rudolf Steiners weiter anzunähern, wäre es nötig, den Versuch von Christoph Lindenbergs Chronik weiterzuführen. «Das ist die Aufgabe Ihrer Generation.»

Diese Anregung verfolgt Martina Maria Sam in einem weiteren Aspekt des Biografieprojekts. Exemplarisch zunächst für das Jahr 1916 – die Zeit des dritten Mondknotens Rudolf Steiners und ein wichtiges Jahr für die Vorbereitung der erstmaligen Darstellung des Dreigliederungsgedankens – stellt sie Tag für Tag alle Ereignisse im Leben Rudolf Steiners zusammen: Vorträge, Aufführungen, Begegnungen, Buchhandlungsrechnungen, Briefe, Notizbuchein-tragungen und weitere Spuren seines Lebens sowie zeitgeschichtliche Ereignisse.?|?Sebastian Jüngel

Martina Maria Sam: Rudolf Steiner. Kindheit und Jugend. 1861?–?1884. «Alles das ist von symptomatischer Bedeutung», Verlag am Goetheanum. Erscheint voraussichtlich Dezember 2017.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Sebastian Jüngel und Martina Maria Sam.

Erscheinungsdatum: 27.02.18
Auflage: 2
Seiten: 300, m. Abb.
Einbandart: Gebunden
Format: H 23 cm / B 15,8 cm / -
ISBN: 9783723515914