Naturwissenschaft heute im Ansatz Goethes

Naturwissenschaft heute im Ansatz Goethes

Ein Prager Symposium

von Dušan Pleštil / Wolfgang Schad (Hg) |

Die in diesem Band versammelten Beiträge entstanden aus heutiger Anknüpfung an die insbesondere von Goethe eingebrachte Vielseitigkeit der Weltzuwendung, bringen historische, sprachliche und naturwissenschaftliche Anschlüsse und Weiterführungen eben dieser seitdem ununterbrochenen Sukzession.


EAN 9783932386985

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»Ist das ganze Dasein ewiges Trennen und Verbinden, so folgt, dass die Menschen im Betrachten des ungeheuren Zustandes auch bald trennen, bald verbinden werden.«

GOETHE

Die an der Karls-Universität immer lebendig gebliebenen Beziehungen zu den mit Goethe zeitgenössisch verbundenen tschechischen Naturwissenschaftlern wie Kaspar Maria Graf Sternberg (1761-1838) und Jan Evangelista Purkinje (1787-1859) führten zum Kontakt mit heute im deutschen Sprachraum an Goethe anschließenden Naturwissenschaftlern.
Die in diesem Band versammelten Beiträge entstanden aus heutiger Anknüpfung an die insbesondere von Goethe eingebrachte Vielseitigkeit der Weltzuwendung, bringen historische, sprachliche und naturwissenschaftliche Anschlüsse und Weiterführungen eben dieser seitdem ununterbrochenen Sukzession.
Nimmt man eine solche Kennzeichnung der wissenschaftlichen Betätigung in der Goethe eigenen sprachbildenden Form:

»Die Abgründe der Ahnung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche sehnsuchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude an allem Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum lebhaften, fruchtbaren Ergreifen des Augenblicks«,

so wird deutlich, dass alle Facetten menschlicher Weltoffenheit dazu gehörten und gehören. Ja, es wird daran deutlich, dass praktisch jede große wissenschaftliche Leistung erst in solcher Methodenvielfalt gelang – auch dann, wenn nur ein Teil davon absichtlich verfolgt wurde. Die Kehrseite bildeten die Missverständnisse sowohl von Gegnern wie Befürwortern, die absichtlich aber nur eine oder nur wenige dieser Wissenschaftstugenden angewendet wissen wollen.
Es geht im vorliegenden Band nicht um konservative Nostalgien, sondern um die Einübung der Urteilsvielfalt und Urteilsplastizität, die von dem Methodiker Goethe gelernt werden können.

 

Inhalt

Wolfgang Schad
Einleitung

Dušan Pleštil
Goethe und der Goetheanismus in Böhmen und Tschechien

Jan Janko
Im Herzen der böhmischen Naturwissenschaft. Goethe und die Seinigen

Joachim Daniel
Goethe und Aristoteles

Zdenek Neubauer
Esse obiectivum – esse intentionale. Auf dem Wege zur phänomenologischen Biologie

Uwe Pörksen
Goethes phänomenologische Naturwissenschaft. Sprache und Darstellung als Erkenntnisinstrument

Wolfgang Schad
Goethe als Evolutionist

Meinhard Simon
Aspekte zu einer goetheanistischen Mikrobiologie

Karel Kleisner
Mimetische Ähnlichkeiten und ihre Interpretationen

Leoš Prev?atil
Worum geht es in der Farbenlehre Goethes?

Johannes Kühl
Von der gegenseitigen Befruchtung der Goetheschen Farbenlehre und der Physik

Ludolf von Mackensen
Goethe und die Alchemie

 

Aus dem Vorwort der Herausgeber

Die Stadt Prag ist trotz der vielen tragisch über sie hinweggezogenen Ereignisse – man denke allein an den Beginn des Dreißigjährigen Krieges und die Schlacht am Weißen Berg mit allen ihren Folgen – schon im ausgehenden Mittelalter durch Karl IV. zum Zentrum des zahlreiche Nationen umfassenden Kaiserreiches geworden, wo sich in Prag einst alle Künste und Wissenschaften zu sammeln begannen. Gerade diesem Kaiser ist 1348 die Gründung der ersten mitteleuropäischen Universität nördlich der Alpen zu verdanken. Wer die Turmkapellen des Karlssteins besucht, bemerkt, dass von hier aus auch das religiöse Leben vom erwachenden guten Geist der Neuzeit berührt wurde und bald mit Jan Hus und vielen anderen zur inneren Anregung der Reformation in ganz Mitteleuropa wurde. Wenn danach dann oft auch die militärische Macht über das sich selbst befreiende Denken äußerlich siegte, so blieb doch gerade auch hier das Bedürfnis lebendig, die erwachende Naturwissenschaft in den kulturellen Bildungsauftrag mit einzubeziehen.

Heute steht in dem Park des Karlsplatzes zwischen dem Institut zur Geschichte der Naturwissenschaft und dem Stadtkern Prags das Denkmal von Jan Evangelista Purkinje, der dieses Bedürfnis lebenslang verkörperte. Geboren 1787 in Libochovice/Nordböhmen, wurde er zum Priesterberuf bei den Piaristen bestimmt. Als er 21jährig Schiller, Fichte und Novalis entdeckt hatte, brach er diese Laufbahn ab, studierte in Prag zuerst Philosophie und dann Medizin. Seine noch heute grundlegende augenphysiologische Dissertation »Das Sehen in subjektiver Hinsicht« machte Goethe auf ihn aufmerksam. Am 11. und 12. Dezember 1827 trafen sie sich in Weimar und tauschten sich aus. Goethe und Alexander von Humboldt unterstützten die Berufung des jungen Gelehrten an die Universität in Breslau, wo er erstmals ein physiologisches Praktikum für Medizinstudenten einrichtete. Bald an die Karls-Universität nach Prag berufen, wurde er einer der großen Naturwissenschaftler in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Jeder Arzt kennt die Purkinje-Zellen im Kleinhirn, die Purkinje-Fasern im Herzen, jeder Physiologe das Purkinje-Phänomen der unterschiedlichen Farbempfindlichkeit des Auges für die beiden Seiten des Spektrums, und der heute gültige Protoplasma-Begriff für das Gesamt jeder lebenden Zelle stammt auch von Purkinje. Er war – was selten ist – ein ebenso ausgezeichneter Beobachter und Experimentator wie Ideenschöpfer, der die umgreifenden Zusammenhänge erfasste.

Am Ende seiner Laufbahn betrieb er den Plan einer wissenschaftlichen Akademie, an der sich tschechisches und deutsches Geistesleben gegenseitig befruchten sollten. Zu dieser Einrichtung kam es nicht mehr. Aber zu Beginn des hier in seinen Beiträgen vorgelegten Symposions haben wir an dieses Anliegen des großen Purkinje angeknüpft und es unter seine Schirmherrschaft gestellt. […].

Welche Beziehungen hat Goethe zu Prag gehabt? Bekanntlich war er oft in Westböhmen gewesen – insgesamt rund drei Jahre –, so in Eger, Franzensbad, Karlsbad, Marienbad und Teplitz, jedoch war er nie nach Prag selbst gekommen. Kaum bekannt ist, dass er aber eine Briefbeziehung nach Prag hatte. Es war die 17jährige Tochter eines österreichischen Offiziers und dessen Prager Frau, jene mit Namen Leopoldine Grustner von Grusdorf, die im Januar 1827 an den Dichter nach Weimar geschrieben hatte und ihn um Lebensberatung für ihre Kunstinteressen, insbesondere im Zeichnen, bat. Goethe antwortete am 30. März 1827 ausführlich und versuchte, der jungen Dame ihre etwas überspannten Ideen auf eine festere Grundlage zu stellen:

»Nun aber, da ich Sie an die nächste Wirklichkeit hinweise, welche fast unwert schiene, von Ihnen nachgebildet zu werden, so sage ich noch: dass der Geist des Wirklichen eigentlich das wahre Ideelle ist. Das unmittelbar sichtlich Sinnliche dürfen wir nicht verschmähen, sonst fahren wir ohne Ballast.«

Diesen Ratschlag des 77jährigen hat er sich wohl selbst oft im Leben gegeben, um seine Genienatur immer wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Und das wird wohl ein Hauptgrund für seine nahezu lebenslange Beschäftigung mit den Naturwissenschaften gewesen sein. Darin liegt ihr bedeutender kulturpädagogischer Bildungswert, eine weltoffene, gesunde Lebenshaltung zu gewinnen. Die Naturwissenschaften, in diesem Sinne betrieben, haben eben, historisch gesehen, in erster Linie einen hohen Bildungswert, der – einmal in Anschlag gebracht – mehr bewirkt als ihre bloß pragmatisch-technische Anwendung, gegen die damit natürlich nichts gesagt ist. Wir benötigen beide Seiten der Naturwissenschaften. Das ist das kontinuierliche Anliegen aller an Goethe fruchtbar anknüpfenden Naturwissenschaftler eh und je gewesen, und zu dem kann auch manches beitragen, was auf dem hier vorgestellten Symposion vorgebracht worden ist.

Dušan Pleštil, Wolfgang Schad

 

Über die Autoren:

Dr. phil. Dušan Pleštil,

geboren 1973 in Jilemnice. Besuch des Gymnasiums in Semily, Studium der Biologie, Chemie und Pädagogik an der Karls-Universität Prag, Diplomarbeit: Biologie an der Waldorfschule.
Seit 1997 Lehrer an der Waldorfschule in Semily, 2003 Promotion an der Karls-Universität Prag mit dem Thema »Der Begriff der lebendigen Natur in Goethes Schriften zur Naturwissenschaft«.

Prof. Dr. rer. nat. Wolfgang Schad,

geboren 1935 in Biberach/Riss.
Studium der Biologie, Chemie, Physik und Pädagogik in Marburg, München und Göttingen.
Ab 1962 Lehrer an der Goetheschule/Freie Waldorfschule in Pforzheim, ab 1975 Dozent am Seminar für Waldorfpädagogik in Stuttgart.
Seit 1992 Gründung und Leitung des Instituts für Evolutionsbiologie und Morphologie an der Universität Witten/Herdecke.
Seit 2005 Emeritus.

Hauptwerke:
»Säugetiere und Mensch« Stuttgart,
amerik. Übersetzung »Man and Mammals« 1977, erweit. Neuauflage 2008.

»Goethes Weltmacht«
(Gesammelte Aufsätze, Stuttgart 2008).

 

 

Erscheinungsjahr: 2008
230 Seiten, 24 Abb., Broschur
EUR 26,00 
ISBN 978-3-932386-98-5